Graduate School of the Arts and Humanities (GSAH)

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GSH Soft Skills | Überfachliche Kompetenzen

Text versus Bild? Grundlagen historischer Forschung

Dienstag, 11.10.2016 - Mittwoch, 12.10.2016

Dr. Raphaèle Preisinger und Dr. des. Maurice Cottier, Universität Bern

Diese von der Graduate School of the Humanities am Walter Benjamin Kolleg organisierten Kurse zur Aneignung überfachlicher akademischer und berufsvorbereitender Kompetenzen stehen prioritär allen Doktorierenden der GSH offen. Freie Plätze können je nach Anmeldeeingang an weitere Doktorierende, MA-Studierende, Postdocs und externe Interessierte vergeben werden.

Veranstaltende: Graduate School of the Humanities | Walter Benjamin Kolleg
Redner, Rednerin: Dr. Raphaèle Preisinger und Dr. des. Maurice Cottier, Universität Bern
Datum: 11.10.2016 - 12.10.2016
Uhrzeit: 10:15 - 17:00 Uhr
Ort: A-119
UniS
Schanzeneckstrasse 1
3012 Bern
Merkmale: Öffentlich
kostenlos

Kursinhalt und Ziele

Ziel des Kurses ist es, TeilnehmerInnen aus allen Disziplinen der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften unterschiedliche Methoden und jüngere Entwicklungen im Rahmen der Arbeit mit geschichtlichen Text- und Bildquellen näherzubringen. Die Annäherung erfolgt sowohl durch das Lesen von einschlägiger Literatur als auch durch praktische Übungen am (eigenen) Quellenmaterial.

Der Workshop ist zweigeteilt. Der erste Teil bietet eine Einführung in die historische Quellenkunde mit besonderem Fokus auf Schriftquellen. Der Kursleiter erläutert anhand seines eigenen Quellenmaterials (Gerichtsakten) verschiedene methodische Zugänge. Danach bietet sich die Chance, dass die Kursteilnehmenden ihr Quellenmaterial dem Plenum zur Diskussion unterbreiten. Im zweiten Teil wird den Kursteilnehmern unter dem Stichwort der Bildwissenschaft eine Einführung in die neueren transdisziplinären Auseinandersetzungen mit Bildern angeboten, deren Ergebnisse u.a. an einem inzwischen berühmt gewordenen Beispiel aus der Wissenschaftsgeschichte aufgezeigt werden sollen. Analog zum ersten Teil folgt eine Diskussion des mitgebrachten Quellenmaterials.

Teil 1

Die Arbeit von Historikerinnen und Historikern beruht auf der methodischen Auswertung von Archivquellen. Grundsätzlich gilt dabei, dass sämtliche überlieferten Gegenstände – ob textuell oder nicht – als Quellen befragt werden können. In der Praxis handelt es sich jedoch meist um schriftliche Zeugnisse unterschiedlichster Art. Für die Quellenauswertung hat bis heute die Methode der Quellenkritik Gültigkeit, die im Zuge der Formierung der Geschichte als wissenschaftlicher Disziplin im 19. Jahrhundert formuliert wurde. Ziel dieses hermeneutischen Verfahrens ist es, über die Quelle einen Zugang zu vergangenen Wirklichkeiten zu schaffen und die historischen Akteure und ihre Handlungen zu verstehen. Dafür ist die Quelle kritisch auf ihre Echtheit, Originalität und Provenienz zu prüfen. Gleichzeitig muss nach den Intentionen des Autors bei der Niederschrift der Quelle gefragt werden. Im Zuge des linguistic turn und des Aufkommens diskurstheoretischer Ansätze wurde die hermeneutische Zugangsweise der Quellenkritik ab den späten 1960er‐Jahren herausgefordert. Quellen – so die neue Prämisse – sollen primär als das behandelt werden, was sie sind: nämlich Texte. Als sprachliche Konstruktionen seien Quellen weniger als Repräsentationen vergangener Wirklichkeit und Akteure zu entschlüsseln, sondern selbst als historische Wirklichkeit zu behandeln. Dieser erkenntnistheoretische Ansatz schärft einerseits den methodischen Fokus für die historische Bedingtheit von Sprachkonventionen, Klassifikationen, Kategorisierungen und Erzählstilen. Anderseits trägt der enge Fokus auf das Sprachliche für die Geschichtswissenschaft auch die Gefahr in sich, dass durch eine einseitige Konzentration auf Diskurse nicht‐textuelle Aspekte der Geschichte tendenziell unberücksichtigt bleiben.

Teil 2

Parallel zur skizzierten Entwicklung im Bereich der Geschichtswissenschaft lässt sich im Rahmen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Bildern ein grundlegender Paradigmenwechsel feststellen. Über Jahrzehnte prägte das ikonographisch-ikonologische Interpretationsmodell Erwin Panofskys die kunsthistorische Hermeneutik. Es fasst Kunstwerke als Ausdruck 'symbolischer Werte' auf, die als zeitbedingte Äusserungsformen 'wesentlicher Tendenzen des menschliches Geistes' begriffen werden. Dabei stehen die Beziehungen der Kunstwerke zu Texten im Vordergrund. Heute heben transdisziplinäre Bestrebungen, die unter dem Begriff der Bildwissenschaften firmieren, die semantische Eigenständigkeit der Bilder hervor. Sowohl der 1994 von W. J. Thomas Mitchell proklamierte pictorial turn, als auch der im selben Jahr durch Gottfried Boehm diagnostizierte iconic turn, die den Auftakt zu einer breiter angelegten Auseinandersetzung mit Bildern gaben, lassen sich als Kritik an der Vorherrschaft der sprachanalytischen Philosophie und des Linguismus auffassen, die jede Art der Erkenntnis als logisches Problem der Sprache begreifen. Der iconic turn zog eine grundsätzliche Neubewertung der Bilder in den verschiedensten Fachdisziplinen nach sich, auch in solchen Fächern, die Bildern bisher eine eher marginale Rolle zuschrieben. Historiker etwa fassen Bilder nicht mehr lediglich als Illustrationen auf, sondern erkennen sie als historische Dokumente sui generis an. Der epistemische Eigenwert der Bilder wird auch von Wissenschaftshistorikern erkannt, die Bilder in den Naturwissenschaften nicht mehr vornehmlich als empirische Hilfsinstrumente auffassen, sondern ihnen nunmehr eine wissensgenerierende Funktion zuschreiben.

Pflichtlektüre (auf ILIAS):

Bredekamp, Horst 2005: Vom Baum zur Koralle. In: ders.: Darwins Korallen. Frühe Evolutionsmodelle und die Tradition der Naturgeschichte. Berlin: Wagenbach. 12-28.

Sarasin, Philipp 2003: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. In: ders.: Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 10-60.

Mitchell, W.J.T. 1994: The Pictorial Turn. In: ders.: Picture theory: Essays on verbal and visual representation. Chicago: The University of Chicago Press. 11-34.

Raphaèle Preisinger ist assoziiertes Mitglied des Interdisziplinären Forschungs- und Nachwuchsnetzwerks IFN am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern. Sie wurde 2009 an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe im Fach Kunstwissenschaft und Medientheorie promoviert und war von 2009 bis 2016 wissenschaftliche Assistentin im Fach Kunstgeschichte an der Universität Bern. Derzeit ist sie mit ihrem Habilitationsprojekt Forschungsstipendiatin der Gerda Henkel Stiftung.

Maurice Cottier hat nach dem Studium der Geschichte, Sozialanthropologie und Soziologie in Bern, Zürich und Berlin 2015 an der Universität Bern promoviert. Zwischen 2010 und 2015 war er Mitglied der Graduate School of the Humanities am Walter Benjamin Kolleg der Universität Bern. Zurzeit ist Maurice Cottier als Koordinator und Forscher im SNF‐Sinergiaprojekt ‚Doing House and Family‘ der Universitäten Bern, Basel, Lausanne und Luzern tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere der interpersonalen Gewalthandelns und der häuslichen Beziehungen sowie der Wirtschaftspolitik. Seine Publikationen erschienen unter anderem bei NZZ libro, Crime, History & Society und European Review of History.